Heutzutage trägt sich mal wieder ein sekundärer Deutungskampf der Literatur an: Sollten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren literarischen Texten politisches Engagement zeigen? Auf der Anklagebank befinden sich Kant auf der einen, Sartre auf der anderen Seite. Der Streit im Gerichtsaal erinnert an die Schlammschlacht zwischen Johnny Depp und Amber Heard. Ankläger war die Gesellschaft, die sich neuerdings ja für so etwas zu interessieren scheint…

Bevor wir die Argumente beider Seiten anhören, sollten wir noch einmal kurz zurücktreten und uns mit den Angeklagten vertraut machen, bevor es so richtig zur Sache geht:

Fangen wir mit Kant an: Kant war der Überzeugung, dass das Schöne als interessenloses Wohlgefallen zu betrachten sei(, sagen Bender, Spies und Vogt). Sartre hingegen befürwortet die politische Wirkungskraft der Texte.

Und was sagen die Geschworenen dazu? Nun, einige sind sich selbst noch nicht ganz sicher, aber hören sie selbst!

Der Bestsellerautor Peter Stamm beispielsweise unterstützt Kant und sagt, Literatur befreie die Sprache, die die Polemik nur verschmutze. Als Autor jedoch hat man nicht immer überhaupt das Ziel, sich politisch zu äußern. So spiegeln sich beispielsweise viele politische Entscheidungen in unserem Alltag wieder. So spiegelt sich beispielsweise die Klimapolitik in der Art und Weise wieder, wie wir uns fortbewegen. Erneubeck fange beim Schreiben immer erst im Mikrokosmos an und entwickelt sich von dort aus zum Makrokosmos weiter. Beim Start seines Schreibprozesses plant er also nicht, sich überhaupt politisch zu beteiligen. Martenstein hingegen beginnt überhaupt erst nur mit dem Schreiben, wenn er eine Frage hat, nicht die Antwort. So hat für Erpenbeck Literatur keine Welterklärungskompetenz, sondern eine Weltanschauungskompetenz. Für einige dient Literatur dazu, die Meinung der Straße wiederzugeben und persönliche Erfahrungen differenziert aufzuzeigen. Natürlich kann man auch der Meinung sein, dass solche Schriften eh nicht mehr in Zeiten TickToks gelesen werden. Unsere Konsumgesellschaft interessiert sich einfach nicht mehr dafür. Einer von Jonas Lüschers Bestsellern, der sogar in der Schule besprochen wird, erreicht 250-mal weniger Leute als der Tatort. 250-mal WENIGER! In der nächsten Ausgabe des Tatorts am Sonntagabend sollte keine Leiche, sondern ein Buch gefunden werden, denn die großen literarischen Werke scheinen tot zu sein. Zugegeben, es ist auch schon lange nichts mehr Gutes herausgekommen.

Literatur hat in unserer Spaßgesellschaft immer mehr an Bedeutung verloren. Früher war das Lesen noch ein Privileg, das maßgebend für den sozialen Aufstieg gewesen ist. Warum ist das nicht auch noch heute so?

Die Antwort ist nicht ganz so einfach wie man zu denken vermag: Selbst heutzutage ist Lesen immer noch eine zentrale Kulturtechnik und der Schlüssel zur gesellschaftlichen Partizipation. Trotz der Digitalisierung ist mehr Material zum Lesen unter dem Daumen parat als je zuvor – Lesen ist so wichtig, dass es eine der Hauptaufgaben unser heutigen Grundschulen ist. Literatur jedoch ist nach dem Autor Stamm einzig und allein für denn Autor selbst und nicht für die Gesellschaft. Um das zu rechtfertigen würden laut Stamm einige extra dicke Bücher schreiben oder zu unbeliebten Außenseitern werden. Genau deshalb möchte man kaum noch etwas politisches Lesen. Es waren aber die großen Werke der damaligen Zeit, die den Fortschritt und die Menschlichkeit so sehr förderten. Bekannte Beispiele sind „Onkel Toms Hütte“, das zur Abschaffung der Sklaverei beitrug oder „Germinal“, dass die Arbeiterbewegung massiv stärkte. Auch vor der geschichtlich nicht allzu weit entfernten Nachkriegszeit trug Treichel mit seinem Werk „Der Verlorene“ zur inneren Geschichtsschreibung einer ganzen Generation bei. Natürlich ist Literatur, die steif eine Theorie vertritt, um möglichst viele Einzelfälle abzubilden, weniger effektiv als Literatur, die dir das Fremde näher bringt und seinen eigenen Interpretationsspielraum lässt.

 

Da man vor Gericht immer die ganze Wahrheit sagen muss, sollten wir noch hinzufügen: Nichts ist so effektiv wie Aktivismus. Dies ist aber noch lange kein Grund Literatur und vor allem engagierte Literatur gleich voreilig abzutun, denn sie ist alles andere als ein Analyseversuch eines Fantasie-Autors. In einem Buch können nämlich auch Gegenentwürfe zur jetzigen Weltordnung skizziert und unterschiedliche Szenarien einer revolutionären Gesellschaft durchgespielt werden. Es ist dann die Aufgabe des Lesers, seine Empathie einzusetzen und sich solidarisch zu zeigen, wie Lüscher es vorschlägt. Das Prinzip der „Education sentimentale“ kommt hier zum Tragen. Es wird nämlich nicht wie Stamm meint, nur in „schönen Worten erzählt, was sowieso alle anständigen Menschen denken“. Hatte er nicht sogar selbst gesagt, dass Schriftsteller sich zu Außenseitern machen? Gerade das macht doch die Literatur so spannend, auch mal neue Sichtweisen von außen zuzulassen. Das findet auch Lüscher so.

 

 

Nach der Anhörung der Argumente aller Vertreter der beiden Angeklagten, muss sich das Gericht zur Beratung zurückziehen. Einige Argumente wurden bis jetzt nämlich völlig außer Acht gelassen: Was ist nämlich, wenn man einen Kompromiss zwischen beiden Seiten verhandeln könnte? In der engagierten Literatur spielt nämlich nicht nur die stumpfe Tendenzierung eine Rolle. Nein, ganz im Gegenteil! Engagierter Literatur sollte sich bewusst allen Mitteln der Sprache bedienen. Es geht nämlich nicht darum, die Sprache zu befreien, sondern die Gedanken. Häufig wird engagiertes Schreiben und Literatur vermischt, doch sie verfolgen unterschiedliche Ziele. Sollte mal in Literatur aus Versehen ein politisches Statement finden, dann sollte man den Autor nicht sofort dafür kritisieren, sondern wie in jeder Debatte das für und wider abwägen. Kommt man zu dem Schluss, man unterstützt diese Meinung nicht, dann muss ja nicht gleich das ganze Buch schlecht gewesen sein, denn man konnte etwas über eine andere Denkrichtung erfahren. Das ist ja nichts schlechtes. Dass die Ziele des Schreibens ganz unterschiedlich sind, das fiel bereits bei der Betrachtung der Angeklagten auf. Der politische Ausdruck selbst in der Literatur gilt es nicht zu unterdrücken, denn auch in dieser Form müssen die Gedanken ja irgendwie vom Kopf zu den Menschen wandern – ein Weg ist über das Papier. Und wie wir wissen, ist der Kopf zum Teil auch von der Politik geprägt. Dass ein Autor sich mal politisch äußert, ist also nur menschlich. Es besteht also weder hier ein Straftatbestand, noch sollten wir dem engagierten Schreiben verübeln, wenn es sich der Trickkiste der Sprache bedient.

Um jedoch auch einmal die Kehrseite der Medaille zu betrachten: Die Redekunst Hitlers. Ein deutlich negativer Präzedenzfall, da der grausame Diktator die Kunst der Rede maßlos für inhumane Zwecke ausnutzte, die sich jeglichem menschlichen Verstand widerstreben. Das Problem sind dabei nicht die Reden an sich, die zu verurteilen sind, sondern die Inhalte. Die Literatur ist klar zu trennen von den Inhalten, denn aus rationaler Sicht ergeben sich aus seinen Texten große Widersprüche. Nicht nur in sich, sondern auch zu seinem Handeln. Dass Hitler Falschaussagen proklamierte und zur Hetze aufrief, ist nicht das Problem der Sprache, sondern des Inhaltes. Die Kunst in der Rede nur seinetwegen zu verbieten, sollte keine logische Schlussfolgerung sein. Die Sprache vor Missbrauch zu schützen ist gut, doch die Sprache nicht zu nutzen, wäre fatal.

 

Nun, was machen wir aber mit unserem Fall? Ich persönlich würde sagen: Sartre und Kant schließen sich gegenseitig nicht aus. Sie lassen sich sogar vereinen. Sartre kann sich mit kann befreunden, er ist sein alter Ego. Engagierte Literatur ist durchaus gewünscht und kann gerne von gewisser Raffinesse, gar Poesie zeugen. Wie alles im Leben ist der Übergang zwischen engagierter Literatur und Literatur der Kunst wegen teilweise fließend, da Autoren auch immer ihre persönlichen Erfahrungen verarbeiten. Ihre Werke bleiben aber trotzdem ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur und regen den Leser zum Nachdenken an, fordern ihn heraus, provozieren teils gar, geben wichtige Aufschlüsse und schaffen es, gewisse Sympathien zu wecken.

Ich bin aber bin nur meiner selbst der Richter. Was sagen Sie als Jury dazu? Auch Sie dürfen gerne über diesen Fall urteile! Hätten Sie sich anders entschieden? Was sind ihre Gründe? Hätten Sie schärfere Worte gewählt, für eine Seite Partei ergriffen? Ist für Sie jemand absolut im Recht oder können Sie diesen Fall gar nicht klar beurteilen?

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